Freitag, 9. September 2011

Wolfgang Wippermann: ein Historiker hebt ab


Ja Servus,

ein sehr aufschlussreiches Interview führt der SPD-Politiker und Rechtsextremismus-Experte Matthias Brodkorb mit dem Historiker Wolfgang Wippermann in der ZEIT. Provokante Überschrift: 

"Die Singularität von Auschwitz ist ein unhaltbares Dogma".

Da schauten wir natürlich hin. Es juckte uns beim Lesen zunehmend in den Federn, und wir fragten uns: ist es nicht immer wieder erstaunlich, dem Effekt, vor lauter Bäumen den Wald nicht zu sehen, zuzuschauen?


Wolfgang Wippermann

Auschwitz und damit der Holocaust an den europäischen Juden soll nicht singulär sein, weil die Nazis auch die Roma ausrotten wollten, und es woanders auch Genozide gab? Wie kann ein Historiker zu so einem Schluss kommen?

Was ist das für eine Begründung? Und: wo führt das hin? Schauen wir uns doch mal die Auswirkungen an:

Wenn der Holocaust nicht mehr singulär ist, dann können wir uns auch vom Begriff "Holocaust-Relativierung" verabschieden. Dann lassen wir zu, dass man die Fast-Ausrottung der US-Indianer, das Vorgehen gegen die Aborigines, den Genozid an den Armeniern oder Stalins Säuberungsaktionen "dagegenrechnen" kann.

Dann wird es uns auch irgendwann nicht mehr, wie heute noch, stören, dass die Rechten die Opfer des "Bombencaust" (Nazi-Deutsch für den Luftangriff auf Dresden) lauter beklagen als die Opfer des Holocaust. Oder fundamentale Christen in der Abtreibungsdebatte vom "Babycaust" sprechen. Oder die unsäglichen Autoren des islamophoben Hetzblogs "Politically Incorrect" den Islam mit dem Nazismus gleichsetzen (und damit den Nazismus VERHARMLOSEN), wie sie es gern mit Begriffen wie "Islamnazi" tun.

Und wenn die Relativierung und damit Verharmlosung dann Eingang in den Sprachgebrauch gefunden hat, dann können wir die Holocaustleugnung auch gleich als Straftatbestand aus dem StGB entfernen, und David Irvings Einreiseverbot aufheben.

Natürlich geht es hier nicht darum, mit geschichtlichen Dogmen (NPD-Deutsch: "Denkverbote") eine NS-Wiederbetätigung zu erschweren. Aber wir müssen sie auch nicht künstlich erleichtern.

Die NS-Verbrechen und damit auch Auschwitz sind deshalb singulär, weil es zuvor und -hoffentlich- danach nie einen Staat gab, zu dessen staatsbildenden Maximen es gehörte, Menschen in "lebenswert" und "lebensunwert" einzuteilen (oder zB Juden das Menschsein komplett abzusprechen), und die "Lebensunwerten" behördlich geregelt, staatlich organisiert und industriell (!) vollständig auszulöschen. 
Das hebt den Holocaust aus allen anderen Genoziden heraus, und macht ihn unvergleichbar. Jeder Vergleich ist eine Verharmlosung, auch das Anzweifeln der Singularität! Dass die Nazis auch Sinti, Roma, Schwule, geistig behinderte, politische Gegner und noch viele andere Gruppen als "lebensunwert" betrachteten und sie in das System zum industriellen Massenmord miteinbezogen, ändert daran absolut nichts. 
Natürlich: etwas über 10% der in Auschwitz ermordeten Menschen waren Nicht-Juden. Aber welcher Erbsenzähler trennt denn bitte bei dieser Dimension des industriellen Massenmords zwischen Juden, deren Ermordung "Holocaust" heisst, und Nicht-Juden, deren Ermordnung NICHT "Holocaust" heisst? Hat das auch nur irgendeinen Einfluss auf den Grad des Verbrechertums des Regimes? Ist nicht das eigentliche Verbrechen die Selektierung dessen, wer gewissenlos umgebracht werden darf, und wer nicht?

Was, wenn die Nazis den Krieg gewonnen hätten? Wen würden wir heute jagen, nachdem es im dann existierenden Deutschland keine Juden, Sinti, Roma, Schwule, Kommunisten, Sozialisten, Christen, Gewerkschafter, Russen, Polen, Freimaurer, Zeugen Jehovas, Schriftsteller und "entartete" Künstler mehr gäbe? Wir würden nicht bloggen, sondern im Ural Wache schieben...und Jagd machen auf Rothaarige, Radsportler, Fans von Lady Gaga und Linkshänder! Oder auf sonst wen!

Das sind praktische Aspekte, die Wippermann auf seiner abgehoben historisch-philosophischen und laborhaften Denkebene komplett unberücksichtigt lässt. Im Labor können wir zeigen, dass 1 und 1 gleich 3 ist, dass Wasser bergauf fliesst, und dass man einen Gegenstand von A nach B beamen kann. Aber Labor ist nicht Praxis!

Der Mann braucht Erdung. Wir empfehlen mal den Besuch in einer KZ-Gedenkstätte. Gleich welcher. Hauptsache raus aus dem Elfenbeinturm. 

So long

Der Falke


P.S.: Wir schreiben über uns selbst, dass wir frei von Dogmen sind. Vielleicht kann unsere Haltung zur Singularität der NS-Verbrechen als "dogmatisch" interpretiert werden. Aber für uns ist das kein Dogma. Sondern eine beweisbare Tatsache. Dogmen sind "ex cathedra" verkündet...WEIL sie nicht beweisbar sind.